Lhakpa Doma Salaka-Pinasa Sherpa |
Sherwa mi - viel' Steine gab's und wenig Brot: Eine Sherpa-Tochter erzählt. Bad Honnef: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung 1994. Die Familie Die Sherpa kennen eine Reihe von Verwandtschaftsbeziehungen, die für den gesellschaftlichen Umgang von ganz entscheidender Bedeutung sind. Die Struktur dieser Verwandtschaftsbeziehungen unterscheidet sich in vieler Hinsicht von der einer westeuropäischen Gesellschaft. Um dies etwas zu verdeutlichen, möchte ich einige der wichtigsten Verwandtschaftsbezeichnungen anführen. Es ist dabei zu beachten, daß sich die Sherpa-Gesellschaft in pratrilineare Klane gliedert, und daß das unten angeführte Schema nur für einen bestimmten Klan gilt. Noch komplizierter wird die Sache nämlich, wenn die Frauen, die durch die Heirat Mitglied des Klans ihres Ehemannes werden, die Verwandtschaft ihres Vaterklans mit einbeziehen.
Zwischen einem tsak und den nyenmu besteht das, was von den Ethnologen als joking relationship bezeichnet wird. In aller Öffentlichkeit treiben die nyenmu alle möglichen Scherze mit ihrem tsak, die allgemein nicht ernst genommen werden, auch nicht von dessen Ehefrau, doch für den tsak können diese Scherze zu einer echten Plage werden. Solche Scherze sind beispielsweise: den Hut o.ä. wegnehmen, kneifen, Wasser über den Kopf gießen, Mehl ins Auge werfen, Raupen in den Mund stecken, Hände und Beine festhalten und kneten, sexuelle Andeutungen usw. Der tsak kann sich wehren, wenn eine nyenmu alleine ist. Dann darf er sie zu Boden werfen und auf sie klettern. Derartige Scherze enden spätestens, wenn Tränen fließen. Manchmal entziehen sich die Opfer durch Flucht, doch werden sie dann als Feiglinge bezeichnet. Die Ehefrau darf nicht helfend eingreifen; Unterstützung erhält der tsak als Opfer allenfalls von seinem yaku oder anderen jungen Männern des Dorfes. Ein ähnliches Verhältnis besteht zwischen einer tsam und ihren yaku, wobei auch hier der Ehemann nicht eingreifen darf; doch wird mehr mit Worten gescherzt. Kleinere Raufereien kommen jedoch auch vor. Derartige Beziehungen sind zwischen tsak und iwi bzw. tsam und mem untersagt. Eine Frau darf folgende Personen nicht heiraten: azhang, chechang, mau und die Kinder und Kindeskinder der chechang und mau. Zuwiderhandlungen wären more (schändlich, verwerflich). Ebenso darf ein Mann seine ini, uru, mau und deren Kinder und Kindeskinder nicht heiraten. Da die Sherpagesellschaft in exogamen patrilinearen Klanen1 organisiert ist, können Verwandte väterlicherseits grundsätzlich nicht geheiratet werden. Wichtig für Eheschließungen sind aber auch die astrologischen Daten. Die Sherpa verwenden als tibetische Buddhisten den tibetischen Kalender. Dieser setzt sich aus einem 60jährigen Zyklus zusammen, dessen Jahre durch eine Kombination von fünf Elementen Feuer, Erde, Eisen, Wasser und Holz und zwölf Tierkreiszeichen bezeichnet werden. Während das Tierkreiszeichen jedes Jahr wechselt, erfolgt der Wechsel des kombinierten Elementes nur alle zwei Jahre. Für die astrologischen Daten eines Menschen sind die Tierkreiszeichen nur von untergeordneter Bedeutung; wichtiger ist das Element. So gelten bei Heiraten Elemente, die einander vernichten, als ungünstig: Wasser vernichtet Feuer, Feuer vernichtet Holz, Erde vernichtet Eisen usw. Beispielsweise war mein Vater Eisen, meine Mutter Erde; Vater starb mehr als 20 Jahre früher als Mutter.2 Mein Vater war der älteste Sohn seiner Eltern, das langersehnte Wunschkind. Entsprechend muß er von seinen Eltern verwöhnt worden sein. Als diese eines Tages meine Mutter als seine zukünftige Ehefrau ausgesucht hatten, lehnte er eine derartige Eheschließung ab. Er wollte lieber ein anderes Mädchen heiraten, das ihm besser gefiel. Großvater setzte seinen Willen jedoch durch, und so wurden unsere Eltern miteinander verheiratet. Nach dieser Eheschließung ging unsere Mutter, die aus recht armen Verhältnissen stammte, sofort zum Haus ihrer Schwiegereltern und arbeitete etwa zwei Jahre lang bei ihnen. Ihre Schwiegermutter lud ihr immer das meiste Viehfutter auf, was ihr sehr zu schaffen machte, da sie köperlich ziemlich schwach war. Großvater baute für das junge Paar ein kleines Häuschen. Es hatte ein Stockwerk und nur drei Fenster und eine Tür. Außerdem erhielten die Eltern 11 Yak-Kälber und sechs Parzellen Land, die bis nach Shiteling am Hang verstreut lagen. Die weitere Mitgift bestand aus einer gußeisernen Pfanne, einem Messingkessel und ein paar Messingtellern. Vater fand, das wäre viel zu wenig. Daher ging er noch drei Jahre lang jeden Morgen bei seinen Eltern frühstücken. Andere Leute behaupteten aber, unsere Eltern hätten viel zu viel Mitgift bekommen; sie könnten nur nicht wirtschaften. Die Großeltern hatten noch vier weitere Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen. Der zweitälteste Sohn war damals recht eifersüchtig auf die Kinder seiner älteren Geschwister. Großvater gefiel es, wenn wir zu ihm kamen. Wir taten das sehr gerne, weil er uns viele Märchen und Geschichten erzählte oder Lieder beibrachte, und wir dann immer etwas zu essen bekamen. Wenn der Großvater außer Haus war, band sein zweiter Sohn den bissigen Hund und den störrischen Ochsen vor der Haustür fest, so daß wir Kinder keine Möglichkeit mehr hatten, ins Haus zu gelangen. Großmutter interessierte sich wenig dafür. Sie hatte nur ihre Arbeit im Sinn. Der jüngere Bruder unseres Vater war überhaupt recht schwierig und verwöhnt. Nach seiner Heirat und der Geburt des ersten Kindes hörten wir ihn und seine Frau ständig streiten. So war es nicht verwunderlich, daß die Ehe geschieden wurde, als das Baby erst wenige Monate alt war. Ich erinnere mich, daß der Onkel einen weißen Hut und schicke weiße Kleidung anhatte. So ging er voran, während seine Frau hinter ihm her zeterte, er könne das Kind nehmen; sie wolle es nicht. Sie schmiß den Tragekorb mitsamt dem Baby auf die Mauer und ging hinter ihrem Mann her. Hinter den beiden liefen dann schimpfend die Großeltern und die Brüder der Frau. Großmutter nahm das Baby zu sich. Auch der Sohn zog wieder bei seinen Eltern ein, während seine Frau mit ihren Brüdern fortging. Das sollte die beiden aber nicht davon abhalten, daß er sie regelmäßig besuchte und die beiden später noch eine weitere Tochter zeugten. Diese zweite Tochter wuchs bei ihrer Mutter auf. Später stürzte das Mädchen ins Feuer. Der ganze Schädel war verbrannt. Ihre Mutter tat kräftig Kuhmist darauf. Das Kind überlebte, wurde aber von anderen Kindern später geärgert. Da sie oben auf dem Kopf keine Haare mehr hatte, mußte sie ständig ein Kopftuch tragen, das die anderen Kinder ihr dann gerne herunterrissen. Eines Tages brachten Großvater und Onkel ein großes, kräftiges Mädchen als zweite Frau des Onkels mit. Dieses Mädchen war genauso störrisch wie der Onkel. Sie war nur mitgekommen, um sich das Dorf anzuschauen. Anschließend wollte sie sofort wieder mit den Brauthelfern zurückkehren. Der Onkel lief hinter ihr her, holte sie zurück und sperrte sie in der Scheune ein. Dort machte die junge Frau einen derartigen Lärm, daß das ganze Dorf zusammenlief. Sie randalierte so sehr, daß die Scheune bereits erheblich beschädigt war. Da sagte Großmutter, das Mädchen solle doch nach Hause gehen, wenn es wirklich nicht bleiben wolle. Man solle es nicht zwingen. So konnte die junge Frau in ihr Heimatdorf zurückkehren. Die erste Frau des Onkels war zwischenzeitlich erneut verheiratet worden. Da lief die erste Tochter zu ihrer Mutter. Ihr Vater ging, um sie wieder zurückzuholen. Diese Gelegenheit konnte er nicht ungenutzt lassen, und es kam erneut zu sexuellen Kontakten zu seiner ersten Frau. Diese erzählte ihrem Mann von dem Vorfall. Da kamen mehrere Männer, hingen den Onkel an den Händen gefesselt an einen Baum, und der betrogene Ehemann verabreichte ihm die bei Ehebruch üblichen Peitschenhiebe. Außerdem mußte der Onkel 40 Rupien Strafe zahlen. Nach diesem Vorfall kehrte er dem Dorf den Rücken zu und ging nach Indien, wo er eine dritte Frau heiratete. Ein Sohn aus dieser Ehe, ein sehr intelligenter Junge, wurde später von meiner Mutter und meiner Tante aufgenommen und großgezogen. Von dem Onkel haben wir danach nichts mehr gehört. Von den beiden Schwestern meines Vaters starb die ältere als Jugendliche, bevor sie verheiratet wurde. Die jüngere Schwester wollte unbedingt ins Kloster. An dem Tag, als sie aus dem Haus ging sie erklärt heute, sie sei damals 21 Jahre alt gewesen sah ich sie mit einem schweren Korb beladen den Hang herunterkommen. Ich hatte gerade am Himmel ein Flugzeug gesehen und wollte sie auf diese sensationelle Entdeckung aufmerksam machen. Es war das erste Flugzeug, das ich mich erinnere, gesehen zu haben. Meine Tante tat aber so, als würde sie mich nicht sehen und hören und ging einfach weiter. Als ihre Mutter abends von der Tierweide nach Hause kam, sah sie das alte Kleid ihrer Tochter im Flur hängen. Sie begriff sofort, was das bedeutete, da sie sich schon häufiger über die Absichten meiner Tante unterhalten hatten, und schluchzte. Später sind meine Großeltern zu ihrer Tochter nach Takshindu gegangen und haben ihr dort mit Hilfe ihrer Söhne eine kleines Holzhaus gebaut. Es hat nur zwei kleine Zimmer, und die Tante lebt noch heute darin. Wenn sie später einmal zu ihren Eltern ins Dorf ging, unterhielten sich diese immer nur über religiöse Dinge und beteten. Am Ende ihrer Klosterausbildung müssen die Nonnen eine Art Prüfung ablegen. Meine Tante erzählte, daß sie und zwei andere Nonnen vom Vorsteher des Männerklosters zunächst den Auftrag erhielten, nachts alleine mit einer Trommel auf den Verbrennungsplatz zu gehen und zu beten. Dabei durften sie keinerlei Angst empfinden. Die Hauptaufgabe aber war, daß sie sich auf die Suche nach ihrem sem (Gedanke, die Seele, das Ich) machten. Die Tante geisterte einige Tage durch das Gebirge und brachte einige Dinge mit, von denen sie annahm, sie könnten des Sitz des sem sein. Doch das war alles falsch, und der Lama forderte sie auf, die Sonne zu bringen. So machten sich die drei Nonnen wieder auf den Weg. Die beiden anderen Frauen hatten noch etwas zu essen dabei. Meine Tante warf das weg, weil sie der Meinung war, daß man mit vollem Bauch nicht die notwendige Konzentration aufbringen könnte. Die ältere der drei Frauen löste die Aufgabe zuerst; die zweite war die andere Frau, ein Tamang-Mädchen. Die beiden berichteten, sie hätten meine Tante zuletzt auf einem weißen Stein liegen sehen. Andere Leute sagten, sie hätten sie klatschnaß oben am Womi Tso herumlaufen gesehen. Als meine Tante schon 10 Tage weg war, begannen ihre Eltern, sich Sorge zu machen. Schließlich fand die Tante aber doch ihren sem und kehrte zum Kloster zurück. Meine Tante war eine sehr starke Frau, die die religiösen Dinge sehr ernst nahm, die sich aber auch nicht vor weltlichen Handlungen scheute. Das beste Beispiel ist wohl, daß sie später für einige Zeit nach Indien ging und dort im Straßenbau arbeitete. Oft, wenn sie ins Dorf kam, war sie angetrunken. Vermutlich war sie unterwegs überall bei der Verwandtschaft eingekehrt. Sie kegelte dann mit den Töpfen durch die Gegend. Meist legte sie zu Hause die Nonnentracht ab und zog Kleidung ihres Vaters an. Darüber amüsierte sie sich köstlich. Sie scheute sich auch nicht, solange Land von ihrem Vater zu fordern, bis er ihr ein Stück Ackerland in Kundruk überschrieb. Als sie einmal ins Dorf zu Besuch kam, war dort gerade ein Vetter von ihr, der die Tiere hütete. Irgendwie gerieten die beiden in einen Streit, und meine Tante verpaßte ihrem erwachsenen Vetter eine schallende Ohrfeige. Der Vetter war sehr beleidigt und lief zu seinen Eltern nach Horshinga. Meinen Großeltern war dieser Vorfall sehr peinlich. Später ging meine Tante bei religiösen Anlässen mit dem Abt des benachbarten Männerklosters in die Dörfer. Sie hatte eine sehr hohe Achtung vor diesem gebildeten Lama. Eine andere Nonne sah das mit Neid und verbreitete Lügen über meine Tante. Da wurde diese so wütend, daß sie mit einer Axt auf das Haus der anderen Nonne einhackte. Diese hatte jedoch von innen verriegelt, und dieser Riegel hielt stand. Später zog sich diese Nonne aus dem Kloster zurück. Die neun Kerben an der Tür sieht man noch heute. Großvaters Totenfest (shetu tanggup) Normalerweise wird ein Totenfest wie es der Name ja schon sagt nach dem Tode eines Menschen von den Hinterbliebenen gefeiert. Es ist natürlich immer eine recht traurige Angelegenheit. So richtige Feierstimmung will einfach nicht aufkommen. Ganz anders war es, als das Totenfest meines Großvaters gefeiert wurde. Dieser war ein sehr großwüchsiger, stets gutgelaunter und gastfreundlicher Mann. Er hatte als Kind eine Zeit lang eine Mönchsausbildung im Kloster erhalten, so daß er etwas Tibetisch lesen und schreiben konnte. Seine tiefe Religiosität hat er sein Leben lang nicht abgelegt. Später war er dann für einige Zeit nach Indien gegangen. Als er zurückkam, hatte er genügend Geld, um nicht nur ein großes Haus, sondern auch noch als Anbau einen großen lhangang (Hauskapelle) und mehrere mani-Mauern errichten zu könen. Eine kleine Quelle neben dem Haus nutzte er, um eine große Gebetsmühle Tag und Nacht in Drehung zu halten. Nur in der Trockenzeit reichte die Wassermenge nicht aus; dann mußte die Gebetsmühle von Hand gedreht werden. Noch heute existieren im Bereich unseres Dorfes mehrere Steininschriften, die mein Großvater einst hat anbringen lassen. Die Gebetsmühle und die lange mani-Mauer am Haus haben die heutigen Besitzer leider abgerissen. Großvater war ein sehr gesunder, kräftiger Mann. Daher überraschte es alle, als es eines Tages hieß, sein Totenfest werde gefeiert. Dies war umso verwunderlicher, als Großvater weiterhin fröhlich durch das Dorf marschierte. Als Grund für dieses Totenfest noch zu Lebzeiten gab er an, daß er befürchte, seine drei Söhne würden dereinst nach seinem Tode das Totenfest nicht gebührlich feiern. Er war schließlich schon ziemlich alt, wenn auch noch sehr rüstig, so daß er davon ausging, daß er nicht mehr sehr viele Jahre zu leben hatte. Daher hatte er mit seiner Frau abgesprochen, das Totenfest bereits jetzt in großem Rahmen zu feiern. Bereits einen Monat vor diesem Fest hatte er nicht nur alle Mönche und Nonnen aus der Umgebung, sondern auch die gesamte Bevölkerung der umliegenden Dörfer eingeladen. Wochenlang war die Bevölkerung des Dorfes, insbesondere die engere Verwandtschaft, mit den Vorbereitungen für das Fest beschäftigt. Die Mädchen und Frauen hatten tagelang nur Gerste und Mais zu rösten und anschließend mit Handmühlen zu mahlen. Weizen und Buchweizen mußten vor dem Mahlen nicht geröstet werden. Daneben waren u.a. Chang, Soße und Trockenfleisch vorzubereiten. Dann endlich begann das große Fest. Aus dem einen halben Tagesmarsch entfernten Chalsa kam u.a. ein hoher Lama, mit dem Großvater befreundet war. Er hielt bei seiner Ankunft vor der Haustür eine kleine feierliche Zeremonie ab, die uns Kinder tief beeindruckte. Die Luft war erfüllt vom angenehmen Duft des Weihrauchs. In eine mit chang gefüllte gestreifte Ritualvase (karing) tauchte er einen kleinen Grashalm, mit dessen Hilfe er dreimal chang-Tropfen zu Ehren des Königs der Götter (lha gyelbu) in die Luft versprengte. Als das große Essen begann, hatte sich eine riesige Menschenmenge versammelt. Nicht nur das Haus und die Kapelle, sondern auch die Scheune nebenan und der gesamte Hof waren mit Menschen überfüllt. Alle Anwesenden, klein und groß, erhielten einen gleichgroßen Klumpen Getreidebrei. Dazu gab es Soße, Trockenfleisch und Buttermilch. Nur der chang war in erster Linie für die Erwachsenen bestimmt. Die Kinder erhielten nur wenig, die Mönche und Nonnen tranken nur Buttertee. Letztere waren auch die einzigen, die das Essen in Tellern und Schälchen serviert bekamen. Vor allem die Frauen und Kinder wurden hierbei ganz klar benachteiligt. Nach dem Essen begann die große Zeremonie der Klosterleute. Alle waren ergriffen von der Ritualmusik und den monotonen Gebeten der Mönche, die bis Mitternacht andauerten. Mit steigendem Alkoholpegel nahm auch die Ausgelassenheit der Leute zu. Im Gegensatz zu üblichen Totenfesten gab es keine traurigen Gesichter. Lautes Gelächter machte sich breit. Großvater blieb hiervon ebenfalls nicht verschont, mußte er doch mit allen seinen Freunden anstoßen. Seine Stimme wurde immer lauter und übertönte bald das gesamte Geschehen. Irgendwann konnte sich niemand mehr auf den Beinen halten. Die Frauen aus dem Dorf schleppten ihre Männer und Kinder nach Hause, sofern dies noch möglich war. Diejenigen, die von außerhalb gekommen waren, übernachteten an Ort und Stelle. Für die Jugendlichen war das Fest, wie so üblich bei derartigen Angelegenheiten, eine Möglichkeit zum Kennenlernen und zu ersten sexuellen Kontakten. Schon bald ging die Sonne wieder auf, so daß der Schlaf recht kurz wurde. Auch den zweiten Tag über sollte das Fest noch weitergehen, so viel hatte Großvater investiert. Nach dem Mittagessen machten sich die Mönche und Nonnen auf den Heimweg. Damit war der offizielle Teil des Totenfestes abgeschlossen. Die Laien sorgten noch dafür, daß der chang nicht schlecht wurde. So hatte Großvater sein Totenfest noch zu Lebzeiten gefeiert, und er selbst hatte, wie alle Beteiligten, einen Riesenspaß gehabt. Einige Zeit später kaufte Großvater eine große Yakherde von etwa 20 Tieren. Diese Tiere starben jedoch bald an einer Seuche, nachdem sie auch noch Großvaters Pferde angesteckt hatten. Fast zur gleichen Zeit erfroren zahlreiche seiner Schafe auf der Hochweide. Einst ein äußerst wohlhabender Mann, war Großvater nun ziemlich verarmt. Haus und Grundstück mußte er verkaufen. Dies änderte jedoch nichts an seiner Lebenshaltung. Er war sich ja gewiß, daß er alt war und ohnehin bald sterben würde. Er hat noch etwa 15 Jahre gelebt und starb im hohen Alter von über 90 Jahren. Mir ist bekannt, daß später auch noch ein anderer Sherpa und ein Tamang entsprechend dem Vorbild meines Großvaters ihr Totenfest noch zu Lebzeiten feierten. Gaga (Großmutter) (Großmutter) Meine Mutter Yangji kam als letztes von fünf Geschwistern zur Welt. Bei ihrer Geburt starb ihre Mutter. Ihr Vater gehörte zum Binasa-Klan, einem Unterklan der Minyagpa, also war auch sie Binasa. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie drei Brüder und eine Schwester. Später heiratete ihr Vater wieder, und zwar ein Mädchen aus Tamsare (nep. Phera) , die aus dem Chiawa-Klan stammte. Bei den Sherpa herrscht ein Exogamiegebot vor, d.h. die Ehepartner müssen aus unterschiedlichen Klanen stammen. Es gibt in Solu vier derartige Klane: Lamaserwa, Chiawa, Thimmi und Minyagpa. Einige Klane sind auch wiederum in Unterklane aufgeteilt. Auch diese dürfen nicht untereinander heiraten, da sie jeweils als Brüder bezeichnet werden. Aus der zweiten Ehe des Vaters ging nochmals ein Sohn hervor. An Mutters Vater kann ich mich nur noch ganz wenig erinnern. Ich weiß, daß mein jüngerer Bruder und ich einmal die Großeltern zum Essen abholen sollten. Wir Kinder sind auf Bambusstöcken den steilen Hang hinabgeritten, sagten den Großeltern Bescheid und ritten dann auf die gleiche Weise wieder zurück, wie wir gekommen waren. Als wir oben am Berghang standen und zurückblickten, waren die beiden Alten immer noch ganz tief unterhalb von uns. Großvater keuchte , als er den Hang hinaufkraxelte und stützte sich immer wieder auf einem Stock. Er war damals offensichtlich schon sehr alt. An seinen Tod kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß noch, daß er häufig in den Wäldern schlief, wenn seine zahlreichen Gläubiger vorbeikamen, um ihr Geld einzutreiben. Großvater war nämlich sehr arm. Seine Frau habe ich noch sehr gut gekannt. Sie war wohl wesentlich jünger als ihr Mann, obwohl auch sie für uns eine alte Frau war. Sie kam häufig bei uns Suppe oder Kartoffeln essen. Wenn sie danach wieder nach Hause ging, nahm sie zwei Holzscheite mit, mehr konnte sie nämlich nicht tragen. Sie sagte immer, sie sei eine alte Frau und könne nicht laufen und sich selber Brennholz besorgen. Zu Mutter hatte sie offensichtlich ein sehr gutes Verhältnis. Großmutter besaß ein paar Ziegen. Immer zum Dasain-Fest ging ihr Sohn Panu hin, verkaufte eine der Ziegen und kaufte sich von dem Erlös schöne neue Kleidung auf dem Markt in Dorphu. Damit versuchte er dann, den hübschen Mädchen im Dorf zu imponieren. Eines von ihnen, Sani, hat er dann geheiratet. Hatte er zuvor bei seiner Mutter keinen Handschlag getan und sich wie ein Playboy aufgeführt, so arbeitete er nach seiner Heirat sehr fleißig bei seinem Schwager. Als er am Hochzeitstag mit seiner geliehenen Festkleidung vom geliehenen Pferd in den Dreck stürzte, waren sich alle Leute einig, daß die Ehe nicht gutgehen konnte, denn so etwas bringt Unglück. Dennoch haben alle Anwesenden herzlich gelacht. Durch die Eheschließung ihres Sohnes mußte sich Großmutter erst recht verschulden. Anders als bei den Hindus werden nämlich bei den Sherpa die Eltern des Bräutigams kräftig zur Kasse gebeten. Dies ist die Gegenleistung dafür, daß die Braut so lange von ihren Eltern ernährt und aufgezogen wurde. Ein Sprichwort sagt: "Mädchen sind wie die Hühner. Sobald sie groß sind, kommt der Habicht und nimmt sie weg." Das soll heißen, daß man keinen Gewinn mit Mädchen erzielen kann. Zur Deckung der Kosten des Hochzeitsfestes mußte Großmutter vier muri (ein Hohlmaß, ca. 87 l) Mais, zehn Liter chang und zwei bis drei Liter arak für die Beköstigung der Gäste zur Verfügung stellen. Für alle männlichen Mitglieder der Brautfamilie und für ihre Mutter mußten khatag (weiße Zeremonialschals) und mindestens sieben bis acht dharni Butter geliefert werden. Die Butter wird mit geröstetem Weizen vermischt und zu kleinen Pyramiden geformt, die phemat (Geschenk) genannt werden. Die Größe dieser phemat ist vom Brautvater über die Onkel und Brüder bis hin zur Mutter gestaffelt. Letztere bekommt das kleinste Geschenk. Werden ausnahmsweise auch andere Frauen der Familie bedacht, so erhalten diese noch weniger. Irgendwann hatte die Großmutter sich dann später so verschuldet, daß auch keine Ziegen mehr da waren, die man hätte verkaufen können. Panu und Sani bekamen eine Tochter, die jedoch bald darauf wieder starb. Nicht viel später erklärte Sani, daß sie kein Interesse mehr an Panu habe. Die beiden trennten sich, die Ehe war kaputt, und Großmutter war völlig verarmt. Ihre Holzhütte hätte längst einmal renoviert werden müssen, aber auch dazu reichte das Geld nicht. Irgendwann im Winter hörten wir in der Nacht einmal einen fürchterlichen Krach. Wir dachten schon an eines der im Himalaya häufig vorkommenden Erdbeben und liefen aus dem Haus. Aber es war kein Erdbeben. Da sind wir alle mit Fackeln zum Haus der Großmutter hinuntergelaufen, da sonst alle Häuser in Ordnung waren. Unten fanden wir nur noch einen großen Holzhaufen vor; das Haus hatte einen Kopfstand gemacht. Einer meiner Onkel rief nach seiner Stiefmutter, wo sie sei. Sie antwortete: "Hier unter dem Truhendeckel, holt mich raus!" Wie durch ein Wunder hatte sie den Kollaps des Hauses überlebt. Großmutter hatte nun nicht einmal mehr ein Haus und zog zu einem ihrer Stiefsöhne. Niemand kümmerte sich aber fortan so richtig um die alte Frau. Ihr Sohn arbeitete als Knecht bei irgendwelchen anderen Leuten für sein eigenes Essen und Trinken, interessierte sich aber nicht für seine Mutter. Als die Großmutter sehr krank wurde, brachten ihre Stiefsöhne sie nach Tamsare zu ihrer eigenen Verwandtschaft. Diese fragten sie, was sie denn noch besäße. Großmutter erklärte aus Not, sie würde noch etwas Getreide und Gemüse besitzen, obwohl dies nicht wahr war. Offensichtlich schämte sie sich auch, die Wahrheit zu sagen. Da forderte die Verwandtschaft, ihr Sohn oder ihrer Stiefsöhne sollten diese Sachen nach Tamsare bringen oder aber sie wieder zurückholen. Da nichts existierte, holten der Sohn und die Stiefsöhne sie wieder nach Shiteling zurück. Bald darauf starb die alte Frau, die niemand mehr haben wollte. Als sie zwei Tage vor ihrem Tod ihre Notdurft nicht mehr halten konnte und im Haus verrichtete, wurde sie mit großem Gezeter aus dem Haus geschleppt. Zur Leichenverbrennung wurden keine Tränen vergossen. Es waren vielleicht fünf Personen anwesend. Schließlich gab es ja nichts mehr zu holen. Als Kinder waren wir immer bei ihr willkommen gewesen, wenn wir etwas zu essen haben wollten, auch wenn sie selber nichts hatte. Bezeichnend war auch, daß über sie immer nur dann als gaga gesprochen wurde, wenn sie selber anwesend war, ansonsten hieß sie ganz einfach gama (die Alte). Eine Schande für die Sherpa. Das Thema Altersversorgung ist ein Mythos. Chechang Che war der älteste Bruder meiner Mutter. Diese hat immer besonders an ihm gehangen; er war so eine Art Elternersatz für sie. Aber sie bewunderte ihn auch noch wegen seiner schamanistischen Fähigkeiten. Schamanen, sogenannte minung, finden sich in fast allen Sherpa-Dörfern. Ihnen werden übernatürliche Fähigkeiten zugesprochen. So sind sie in der Lage, Krankheiten zu heilen, böse Geister, die häufig hinter Krankheiten stehen, zu vertreiben oder zu besänftigen, Träume zu deuten, die Zukunft vorauszusagen und das Schicksal anderer Personen durch magische Praktiken zu beeinflussen. Es bedarf besonderer Ereignisse oder Erscheinungen, daß jemand als minung berufen wird. Bei Chechang Che war es so, daß seine Mutter, als sie ihn noch in ihrem Leib trug, einen Traum hatte, in welchem ihr ein schneebedeckter spitzer Berg erschien. Dies wurde damals so gedeutet, daß aus dem Kind in ihrem Mutterleib einmal etwas ganz Besonderes werden würde. Doch bis er eines Tages wirklich Schamane werden sollte, verging noch eine lange Zeit. Chechang Che war bereits seit geraumer Zeit mit seiner Frau Ini verheiratet. Den folgenden Bericht hat diese mir später erzählt. Als die beiden die Felder bestellen wollten und dabei waren, Kartoffeln zu pflanzen und Getreide zu säen und Onkel Chechang Che gerade den Ochsenpflug führte, ließ er auf einmal mitten in der Arbeit alles stehen und liegen und ging in Richtung Deku. Offensichtlich hatte sein Geist die faßbare Welt um ihn herum verlassen, so daß er seine Umgebung gar nicht mehr wahrnahm. Tante Ini traute ihren Augen nicht und lief laut schimpfend hinter ihrem Manne her. Als sie ihn einholte, kam er offenbar wieder zur Besinnung und kehrte mit seiner Frau auf das Feld zurück. Nach seiner eigenen Aussage war ihm ein weißgekleideter Mann erschienen, den er als seinen Lehrer bezeichnete. Dieser habe ihm mitgeteilt, er sei zum Schamanen berufen und solle die entsprechende Prüfung bei ihm ablegen. Diese bestehe darin, ohne Hilfsmittel einen Wasserfall hinaufzuklettern und drei Tage lang nur von Moos und Würmern zu leben. Dabei müsse er sich ständig vor der schwarzen Frau des Lehrers verstecken, da diese versuche, die Schüler ihres Mannes zu fressen. In diesem Stadium kommen häufig junge Männer, die sich berufen fühlen, ums Leben, zumindest werden oft offensichtliche Selbstmorde so erklärt. Erst wer die drei Tage erfolgreich überstehe, habe die Schamanenprüfung bestanden. Chechang Che hat diese Prüfung dann wohl zu einem späteren Zeitpunkt doch absolviert. Jedenfalls erzählte seine Frau, er sei hin und wieder nächtelang von zu Hause weggeblieben. Immer wenn irgendwo im Dorf eine Erkrankung auftrat, wurde Chechang Che zu Hilfe gerufen. Es war durchaus nicht so, daß es sich bei seinen Maßnahmen um einen faulen Zauber handelte. Er besaß auch gewisse grundlegende Kenntnisse in der Wirkungsweise von Kräutern, so daß er bei bestimmten Arten der Erkrankung durchaus ein passendes Heilmittel zur Verfügung hatte. So wußte er zum Beispiel, wie man im Falle eines Schlangenbisses das Gift absaugen mußte und mit welchen Kräutern, die er zuvor im Mund kaute, man dann die Stelle zu behandeln hatte. Die Kräuter, die er dabei benutzte, sammelte er alle eigenhändig in den Wäldern, wenn niemand sonst bei ihm war. So war die ganze Sache immer äußerst geheimnisvoll. Einmal kam ein junger Mann angelaufen, der von mehreren Wespen im Augen- und Stirnbereich gestochen worden war. Sein Gesicht war stark angeschwollen. Ohne lange zu überlegen, nahm der Minung etwas gegorenen Bierbrei und träufelte ihn auf die Schwellungen. Innerhalb kurzer Zeit gingen sie zurück, und der junge Mann konnte wieder nach Hause gehen. Seine medizinischen Heilungsversuche begleitete Chechang Che mit Gebeten und magischen Formeln und Praktiken. Er schimpfte immer wieder mit den bösen Geister, meist Geistern von bestimmten Verstorbenen, die nach seinen Angaben die Krankheit verursacht hätten. Meist nahm er eine kleine Steinplatte, legte etwas glühende Holzkohle darauf und streute einige wohlriechende Kräuter darüber. Er legte Butter und ein paar Speisestücke darauf, welche die verstorbene Person, deren Geist er als Verursacher der Krankheit erkannt hatte, zu ihren Lebzeiten gerne gegessen hatte. Dann nahm er einen Melissenzweig, befestigte oben daran eine kleine weiße Fahne, auf die er mit Kohle schwarze Linien zeichnete, und unten drei Butterstreifen. In einer Hand hielt er die Steinplatte mit der rauchenden Glut, in der anderen den Zweig. Dann stellte er sich vor die kranke Person und sagte laut: "Das Fleisch ist nur Schaum, das Blut ist nur Wasser, und die Knochen sind bloß Steine. Ab heute gehe fort, gehe zu deinen Verwandten und laß dich nicht mehr blicken, sonst stülpe ich dir einen Frauenunterrock über den Kopf." Währrenddessen mußte die erkrankte Person gut zuhören und andächtig beten. Nun umkreiste der minung dreimal ihren Kopf mit der Steinplatte und ging laut schimpfend mit seinen Utensilien aus dem Haus hinaus zu einer Wegkreuzung. Dort steckte er den Melissenzweig in die Erde und setzte die Steinplatte daneben ab. Diese Dinge blieben nun dort stehen. Die Erkrankten waren voll überzeugt, daß die Ursache der Krankheit beseitigt war und es ihnen wieder besser gehen würde. Der Schamane war allerdings nicht immer bereit, zu den Personen zu gehen, zu denen er gerufen wurde. So vermied er es beispielsweise zu gehen, wenn er zuvor einen schlechten Traum gehabt hatte. Einmal wurde er auch überlistet. Ein Mann aus dem Dorf hatte im Streit seine Frau halb totgeschlagen. Das war beobachtet worden und somit im Dorf bekannt. Als es der schwerverletzten Frau immer schlechter ging, wollte der Mann diese Tat offensichtlich dadurch vertuschen, daß er sich vom Schamanen bescheinigen ließ, daß eine Krankheitsursache nicht feststellbar sei. Er schickte daher eine Dienerin seiner Mutter zu Chechang Che, so daß dieser meinte, es handele sich bei der Erkrankten um die Mutter des Mannes. Also ging er mit. Als er dann feststellen mußte, daß er in Wirklichkeit zu der schwerverletzten Frau des Mannes gerufen worden war, war er zunächst sehr verärgert. Er behandelte die Frau, die mehrere Rippenbrüche erlitten hatte, dann doch noch. Sie war sehr lange krank, hat aber letztendlich überlebt. Eine besondere Aufgabe kommt dem Schamanen auch beim Hausbau zu. Hier ist es nämlich wichtig, den optimalen Standort für das neu zu errichtende Gebäude zu bestimmen. So ist der Tag des Baubeginns wichtig; mittwochs sollte man z.B. nicht damit anfangen, auch nicht im Monat cait (März/April). Auch sollte das Haus nicht auf Geisterwegen errichtet werden. Die Geister pflegen nämlich auf bestimmten Pfaden zu wandern, die vom Schamanen geortet werden können. Chechang Che beobachtete beispielsweise sehr genau die Winde zu beobachten. Dort, wo sich kleine Luftwirbel bildeten, stellte er die Geisterwege fest. Der Schamane bestimmte auch die Richtung des Hauses. Türen sollten nach seiner Aussage nicht auf der West- sondern auf der Ostseite des Hauses angebracht werden. Wenn das Richtfest des Hauses gefeiert wurde, achtete der Schamane tunlichst darauf, daß oben unter dem Dach auch ein kleines mit einer weißen Fahne und drei Butterstreifen geschmücktes Ilexästchen aufgestellt wurde, das dort für immer verblieb. Trotz der langsam im Sherpagebiet Einzug haltenden westlichen Medizin bleiben die Bedeutung und das Ansehen der Schamanen unverändert. Als wir beispielsweise Mitte der siebziger Jahre einmal im Dorf waren, litt der jüngste Bruder meines Vaters an einer fiebrigen Erkrankung. Er kam zu uns und bat uns um Hilfe, worauf wir ein Antibiotikum versuchten. Als das Fieber nach zwei Tagen immer noch nicht ganz abgeklungen war, ging er auch noch zu Chechang Che und fragte ihn um Rat. Dieser ließ ihn bei meiner Mutter zwei Hähne kaufen, die er dann für seine Zeremonie benutzte. Diese Hähne wurden für ein Jahr seine Stellvertreter. Sie mußten besonders behütet werden, damit ihnen kein Leid geschah. Danach wurden sie geopfert: Der Onkel wurde wieder gesund. Schamanen sind mit ihrem Rat und Tat für alle da. Natürlich leisten sie ihre Dienste nicht ganz kostenlos. Als Belohnung erhalten sie gewöhnlich irgendwelche Naturalien, z.B. Mais, Gerste, Kartoffeln, oder was gerade da ist. Symbolisch wird manchmal auch eine kleine Geldmünze daraufgelegt. Als Chechang Che und seine Frau feststellten, daß sie keine Kinder bekamen, heiratete er mit dem Einverständnis seiner Frau eine zweite Frau, ein Mädchen aus einer armen Familie aus Deku namens Lhamo. Die drei vereinbarten, daß er in der Mitte schlafen würde, doch konnten beide Frauen trotz aller guten Vorsätze ihre Eifersucht nicht unterdrücken. So verlangte jede von ihnen, daß Chechang Che mit dem Gesicht zu ihr gewandt schlafe. Der arme Chechang Che fand überhaupt keine Ruhe mehr und brach das Experiment der Doppelehe bereits nach einer Woche wieder ab. Seine zweite Frau entschloß sich nach diesem Drama, den weltlichen Dingen den Rücken zu kehren, und trat in ein Kloster ein. Das Problem der Kinderlosigkeit lösten Chechang Che und Ini dann auf eine sehr vernünftige Weise: Sie adoptierten drei Kinder. Der nächstältere Bruder von Chechang Che war nach Indien gegangen und nie wieder zurückgekehrt, weshalb über ihn immer nur als der "Nichtsnutz" gesprochen wurde. Er ließ in Akang seine Frau mit zwei Söhnen und zwei Töchtern zurück. Als seine Frau und die älteste Tochter starben, nahmen Chechang Che und seine Frau einen Sohn und die Tochter, Phruwa und Daku, an Kindesstatt an. Der andere Sohn, Kaji, wurde von Chechang Ches jüngstem Bruder, Phuri, aufgenommen. Als nach einiger Zeit dessen Frau zunächst erblindete und dann starb, nahmen Chechang Che und Ini auch noch deren jüngste Tochter, Maya, als Kind an. Die war damals noch ein kleines Baby und nannte daher später Chechang Che und Ini Vater und Mutter, während sie zu ihrem richtigen Vater Onkel sagte. Phruwa wurde später mit elf Jahren verheiratet und zeugte acht Kinder. Sein ältester Sohn, Sonam, wurde ebenfalls bereits mit elf Jahren verheiratet und hält heute den traurigen Rekord, die meisten Kinder im Dorf zu haben, nämlich elf (Stand Sommer 1991). Ein besonderes Problem für Chechang Che war der Alkohol. Als minung war er überall sehr geschätzt und bekam in den Häusern, in denen er einkehrte, stets chang oder arak angeboten. Einmal hat er im betrunkenen Zustand mit seiner Frau so sehr gestritten, daß sie ihn verlassen und zu ihrem Bruder nach Deku gehen wollte. Da aber ihre Adoptivtochter Daku so sehr heulte, kehrte sie wieder nach Hause zurück. Eines Abends waren unsere Eltern einmal wieder damit beschäftigt, einen Eintopf für das Abendessen vorzubereiten. Da sagten sie auf einmal, sie wollten die Wahrheit über unseren Charakter aufdecken. Den Eltern war dieser Ritus offensichtlich vertraut; für uns Kinder war dies jedoch völlig neu. Wir beobachteten, wie die Eltern kleine Teigbällchen formten, die sie mit unterschiedlichen Sachen füllten. In ein Bällchen kam Salz, in ein anderes schwarze Pfefferkörner, in das dritte rote Chillischoten, in das vierte eine Knoblauchzehe, in das fünfte etwas Butter und in das letzte ein Stück Kohle. Diese Bällchen wurden dann zusammen mit dem Eintopf gargekocht. Die Eltern erklärten uns, daß später jedes Familienmitglied eines dieser Bällchen erhalten werde. Der Inhalt der Bällchen treffe dann eine eindeutige Aussage zum Charakter der betreffenden Person. Als das Essen fertig war, teilte die Mutter wahllos an jeden von uns eines dieser Bällchen aus. Mein jüngerer Bruder und ich konnten kaum erwarten zu sehen, was wohl in unseren Bällchen war. Alle öffneten wir nun unsere Teigbällchen. Vater hatte demnach den schlechtesten Charakter. Er hatte nämlich das Stückchen Kohle erwischt, was andeutete, daß er niederträchtig war.3 Ich war am zweitschlechtesten, da ich das Stück roten Chilli erhalten hatte, was bedeutete, daß ich wütend sei. Am besten hatte es mal wieder die Mutter getroffen. Sie hatte für sich das Teigbällchen mit der Butter gezogen. Die Eltern forderten uns anschließend auf, nur ja mit niemandem darüber zu sprechen, daß der Vater das Stück Kohle erhalten hatte. Natürlich haben wir ihn alle mit einem seltsamen Gefühl angeschaut. Beim anschließenden Essen waren alle ungewöhnlich still. Niemand hat etwas gesagt. Wir haben mit anderen Leuten niemals über diese Zeremonie gesprochen; wir haben sie später aber auch nie wiederholt. Als meine Mutter einmal sehr krank war, wurde des Nachts ein Schamane gerufen, damit dieser die Hexengeister vertriebe. Meine Mutter fühlte sich nämlich ständig von einer Frau des Dorfes verfolgt. Bei der Geburt meines älteren Bruders war diese Frau anwesend gewesen. Die Folge sei gewesen, so berichtete meine Mutter später, daß mein Bruder kurz nach der Geburt eine Art Magen- oder Darmverschluß bekam. Rasch waren ein Lama und ein Schamane herbeigerufen worden. Der Lama rezitierte magische Texte, während der Schamane eine Zeremonie abhielt und Gyaltsen ein Hundeamulett verpaßte. Nur so habe mein Bruder damals gerettet werden können. Seither betrachtete meine Mutter jene Frau als eine Hexe. Die besonderen Merkmale einer Hexe sind Neid und Haß. So schrieb Mutter auch jetzt ihre Krankheit diesen von der Hexe ausgehenden negativen Eigenschaften zu. Obgleich der Schamane heimlich gerufen worden war, befand sich auch jene verdächtige Frau unter den wenigen Zuschauern. Der Schamane fiel rasch in Trance und lief im Raum umher, um nach dem la (dem Ich) meiner Mutter zu suchen, das irgendwo in der Gegend umherirrte. Er stieß schnalzende Geräusche aus und rief wiederholt nach dem la. In der Nähe der Feuerstelle wurde er dann tatsächlich fündig. Blitzschnell langte er zu und ergriff etwas, das ich für ein Spinngewebe gehalten hatte. Meine Mutter sagte mir aber später, man habe richtige Augen erkennen können; das sei wirklich eine menschliche Seele gewesen. Der Schamane steckte meiner Mutter dieses Gebilde in den Mund und gab ihr Wasser zu trinken, damit sie es hinunterschlucken konnte. Danach hielt er ihr gemeinsam mit zwei Helfern sämtliche Gesichtsöffnungen zu, damit das Ich nicht wieder entweichen konnte. Dann suchte der Schamane erneut weiter. Schon bald fing er eine fette blaue Fliege, zumindest hatte er sie auf einmal in der Hand. Er warf diese Fliege in die rote Glut der Feuerstelle, und zwei Männer stülpten einen umgedrehten Kessel darüber, damit die Hexe, deren Personifizierung die Fliege war, nicht entweichen konnte. Meine Mutter berichtete später, sie habe gesehen, wie der Kessel sich zweimal leicht gehoben habe, obwohl er doch von zwei starken Männern niedergedrückt wurde. Ich betrachtete währenddessen die verdächtigte Frau, weil ich glaubte, sie müsse ja jetzt Verbrennungsmerkmale haben. Und tatsächlich hatte die Frau sich ein Kopftuch über das Gesicht gezogen, so daß man ihr Antlitz nicht mehr richtig erkennen konnte. Umgekippt oder gar gestorben, wie ich eigentlich erwartet hatte, war sie jedoch nicht. Auch später hatte sie keine Verbrennungsmerkmale im Gesicht, obgleich meine Muter dies behauptete. Außerdem hatte ich auf einen Gegenzauber der Frau gewartet. Meine Mutter hatte mir nämlich einmal erzählt, daß in einer ähnlichen Situation eine als Hexe erkannte Frau ihr Kopftuch zerrissen habe, worauf der Schamane mit gespaltenem Kopf tot umgefallen sei. Doch nichts dergleichen geschah hier. Auch nach der Zeremonie des Schamanen war meine Mutter noch nicht gesund. Daher machte sich der Schamane erneut auf die Suche nach Geistern. Und siehe da, er fand heraus, daß auch zwei Hexer ihre Hand im Spiel hatten, darunter ein Schamane. Hexer werden als noch viel gefährlicher als Hexen erachtet. Gründlich untersuchte der Schamane unser Haus. Dabei stellte er fest, daß unter unserem Haus eine Wasserader verlief. Außerdem entdeckte er unter unserem Haus einen Teil des Tierhimmels, des untersten der drei Schamanenhimmel.4 Dann untersuchte der Schamane die Außenwände unseres Hauses. In einer der Mauerritzen fand er ein Stückchen Kohle. Er identifizierte dieses als Kohlenrest vom Leichenverbrennungsplatz. Wenn man anderen Menschen etwas Böses will, dann steckt man ihnen solche Kohlenreste in den Mund. Sofort bereitete der Schamane einen Gegenzauber vor. Er malte auf zwei weiße Hühnereier schwarze Menschengesichter und schickte meinen Bruder los, diese Eier auf dem Verbrennungsplatz zu begraben. Einige Zeit später starb dann tatsächlich einer der beiden verdächtigten Männer. Offensichtlich hatte der Zauber des Schamanen gewirkt. Richtig gesund war meine Mutter aber immer noch nicht. Sie drohte, sie wolle das Haus anzünden, weil es an einer so ungünstigen Stelle errichtet worden sei. Zu allem Überfluß verschlimmerte mein Vater die Situation noch, als er einmal mehr nicht auf meine Mutter hörte. Er wollte ein Kalb verkaufen. Da es aber Mittwoch war und man an einem Mittwoch nichts aus dem Haus geben darf, verschloß meine Mutter die Haustür. Da schob mein Vater kurzerhand das Kalb durch das Fenster hinaus. Die Männer lachten, aber der Gesundheitszustand meiner Mutter verschlimmerte sich. Es sah so aus, als habe das ihr den Rest gegeben. Offensichtlich hatten wir die höheren Wesen doch sehr beleidigt. Daher ordnete der Schamane an, daß wir jeden Morgen das gesamte Haus auskehrten. Mein Vater sollte Weihrauch ins Feuer werfen, etwas Butter darauflegen und Wasser darüber sprengen. Vor dieser Zeremonie sollte er auch seinen Körper gründlich reinigen. Vater brachte jeden Morgen so viel Melissen und andere Sträucher ins Haus, wie er nur tragen konnte. Das hatte zur Folge, daß die Rauchentwicklung so stark war, daß es niemanden mehr im Haus hielt. Selbst die Fliegen und Mücken fielen von den Wänden, ja sogar unsere kranke Mutter ging nach draußen, wenn Vater mit dem grünen Laub ankam. Es bereitete ihm sichtlich Spaß, daß sein Verhalten solche Folgen hatte. Nach einigen Tagen ging es der Mutter tatsächlich besser, so daß sie sogar wieder arbeiten konnte. Doch das Schicksal meinte es nicht gut. Sie ging in die Wälder, um Farn zu holen. Dabei muß sie wohl, wie später vom Schamanen analysiert wurde, mit einem Regenbogen in Berührung gekommen sein. Mutter wurde erneut krank. Der Schamane gab ihr eine ganze Reihe von Amuletten, die sie am Hals tragen mußte. Außerdem schimpfte er, wir hätten nicht genug gebetet. Die Amulette waren nach einiger Zeit stark verlaust. Meine Mutter fing die Läuse und zerbiß sie mit den Zähnen. Ein weiterer Ratschlag des Schamanen war, etwas heiliges Wasser aus einer Quelle am Womi Tso zu holen. Die Eltern liehen in der Nachbarschaft eine verschließbare kleine Flasche und schickten meinen älteren Bruder los, das Wasser zu holen. Der ging gemeinsam mit vielen anderen jungen Leuten aus dem Dorf dort oben auf die Hochweiden, wo sie sangen, tanzten und scherzten. Das Wasser aber vergaß mein Bruder darüber völlig, und er kehrte mit einer leeren Flasche nach Hause zurück. Mutter war tief enttäuscht. Dann entschloß sie sich, zu den heißen Quellen in der Nähe von Cherko zu gehen, denen eine heilende Wirkung zugesprochen wird. Ich sollte sie dorthin begleiten. Mutter hatte den ganzen Morgen über eine sehr schlechte Laune und schimpfte ständig mit mir herum: Wenn ich dies oder jenes nicht täte, dann wollte sie mich nicht mitnehmen. Meinen Bruder Gyaltsen, der nicht auf die Idee kam, wegzulaufen, schlug sie sogar. Da riet eine anwesende Tante meinem Bruder, er solle doch weglaufen, wenn Mutter ihn schlagen wolle. Jetzt wurde die Tante von Mutter ausgeschimpft, weil sie ihren Sohn nun nicht mehr schlagen konnte. Dann tat meine Mutter schließlich so, als wolle sie mit dem kleinen Baby auf dem Rücken ohne mich losgehen. Ich lief weinend hinter ihr her. Doch offensichtlich suchte sie nur einen Grund, warum sie nicht gehen mußte, und dieser Grund mußte natürlich eine andere Person sein. Also war ich wieder der Sündenbock. Mutter erzählte jedenfalls meiner Tante, sie sei nicht gegangen, weil ich den ganzen Morgen so ein Theater gemacht hätte. Doch der Argwohn meiner Mutter gegenüber der anderen Frau war ungebrochen. Eines Tages haben wir dann wirklich unser Haus in Yawa verlassen und sind nach Shiteling gezogen. Damit waren offensichtlich alle Probleme mit einem Schlag gelöst. Das unglückbringende Haus war verlassen, die der Hexerei verdächtigte Frau war weit weg, und Mutter wurde wieder gesund. Einmal fanden wir vor unserer Haustür eine kleine rote Schlange, die gerade in unser Haus kriechen wollte. Mutter nahm einen Stock und schlug die Schlange tot. Dann nahm sie die Schlange und warf sie bei der Frau, die sie für eine Hexe hielt, hinter das Haus. Ein anderes Mal kam diese Frau bei anbrechender Dämmerung zu unserer Hütte. Sie rief schon von weitem, was Mutter zum Anlaß nahm, sich irgendwo im Gebüsch zu verstecken. Wir sollten der Frau sagen, unsere Mutter sei nicht zu Hause. Die Frau sagte jedoch, ihr sei unterwegs eine Schlange zwischen den Beinen hindurchgekrochen. Sie habe jetzt solche Angst, daß sie sich nicht mehr nach Hause traue und daher die Nacht bei uns verbringen wolle. Wir hockten uns um das Feuer. Irgendwann kam Mutter singend angehumpelt und tat so, als sei nichts gewesen. Kurz darauf wurde Mutter wieder krank; diesmal hatte sie Brustschmerzen. Es wurde ein Rai-Schamane gerufen. Er nahm sein langes Haarbüschel und strich damit über den Busen meiner Mutter. Anschließend nahm er eine Nähnadel, an der er einen weißen Faden befestigte, und strich mit ihrer Seitenkante ebenfalls über die Brüste meiner Mutter. Dann mußte ich die Nadel in die Rinde eines Baumes stecken, den wir woma shing (Milchbaum) nennen, weil er eine milchige Flüssigkeit ausscheidet. Dieser Baum gehörte einem Nachbarn, der als Urheber der Krankheit meiner Mutter erkannt worden war. Ich hatte Angst, daß dieser "böse" Nachbar seinen Hund auf mich hetzen würde. Der Mann war in Wirklichkeit zu uns Kindern aber immer sehr freundlich, nicht jedoch gegenüber meiner Mutter. Später habe ich wiederholt den Baum kontrolliert. Ich konnte nie vergessen, was ich dem Baum hatte antun müssen. Er erschien mir sehr kränklich, gestorben ist er aber nicht. Ein anderes Mal war Mutter einmal mehr erkrankt. Nachdem sie einige Zeit darniedergelegen hatte, waren ihre Haare, die hinten zu einem Zopf zusammengebunden waren, total verfilzt und verlaust. Da ergriff Vater die Heckenschere, schnitt ihr die Haare ganz einfach ab und verpaßte ihr anschließend eine Totalrasur. Als Mutters Bruder, der Schamane, vorbeikam, war er entsetzt über diesen Anblick. Er sagte später zu seiner Frau, seine Schwester sehe jetzt mit dem weißen Schädel und den abstehenden Ohren wie eine Muschel aus. Mutter tat die Rasur aber offensichtlich gut. Sie wurde wieder gesund. Mit der Zeit bildete sich bei Mutter ein starker Kropf. Der Schamane erkannte, daß die Ursache in einer Korallenkette lag, die Mutter um den Hals trug. Diese Kette stammte nämlich von einer Schwägerin, die selbst einen Kropf hatte. Mutter klagte ständig, daß sie schlecht Luft bekäme. Wir haben daher die Korallenkette weggeworfen. Der Kropf meiner Mutter wurde aber nicht besser. Eine Möglichkeit, den Kropf zu bekämpfen, ist auch das Essen der gekochten Gurgel eines Schafes. Leider hatten wir keine Schafe, so daß wir dies bei Mutter nicht versuchen konnten. Ein Tamang-Nachbar versuchte, den Kropf seiner Frau mit einem brennenden Holzscheit abzubrennen, was auch als eine wirksame Methode der Kropfbekämpfung galt. Die Folge war jedoch, daß sich die Erkrankung der Frau noch verschlimmerte. Hilfe, Mutter liegt im Sterben! Es war wohl im Spätherbst oder frühen Winter. Etwa einen Monat zuvor hatte Mutter unsere Schwester Sarki zur Welt gebracht. Diese hatte ein ungewöhnlich hohes Geburtsgewicht, vor allem wenn man bedenkt, daß Mutter eine recht zierliche Person und nicht mehr ganz jung war. Dennoch war die Geburt eigentlich völlig problemlos verlaufen. Dawa und ich schliefen in unserer größeren Hütte, während Mutter mit dem Baby nebenan in der kleinen Hütte mit der Feuerstelle schlief. Mitten in der Nacht wurden Dawa und ich auf einmal durch Sarkis lautes Weinen geweckt. Weil das Geschrei nicht verstummte, standen wir auf und gingen zur anderen Hütte hinüber, um nachzuschauen, warum Mutter nicht wach wurde. Mutter lag wie leblos auf dem Kuhfell auf dem Boden. Sie war nicht mehr mit der Decke zugedeckt, und ihr Körper war eiskalt. Als wir sie ansprachen, antwortete sie nicht. Sie röchelte lediglich leise vor sich hin. Wir dachten schon, sie hätte etwas verschluckt und richteten sie daher auf. Sie war steif wie ein Brett. Wir haben ihr kräftig auf den Rücken geschlagen und in Panik gerufen und geschrien. Wir müssen wohl so laut gewesen sein, daß die Leute aus der Nachbarschaft angerannt kamen. Sie dachten, es wäre etwas passiert und wir brauchten Hilfe. Mutters Kiefer waren fest aufeinandergepreßt. Wir versuchten vergeblich, sie mit den Händen auseinanderzureißen. Als das nicht funktionierte, nahmen wir eine Eisenschaufel, hebelten das Gebiß auseinander und flößten ihr etwas Wasser in den Mund. Wir wußten in unserer Panik nicht, wie wir uns verhalten sollten. Instinktiv aber glaubten wir, daß etwas kaltes Wasser helfen könnte. Kurz darauf kam Mutter tatsächlich wieder zu sich. Ich habe mich eine Zeitlang zu ihr ins Bett gelegt und sie mit meinem Körper gewärmt. Bald kam auch ihr Bruder, der minung angelaufen, den Dawa herbeigerufen hatte. Er hat aber nichts weiter unternommen. Das Baby haben wir die ganze Zeit über weiterschreien lassen, weil wir glaubten, es sei schuld am Gesundheitszustand der Mutter. Auch Sarkis Körper war mittlerweile kalt. Am nächsten Morgen war Mutter wieder in Ordnung, es wackelten infolge unserer Gewaltanwendung lediglich zwei Zähne. Aber sie konnte dennoch zusammen mit uns darüber lachen. Als bald darauf auch Vater und Gyaltsen wieder nach Hause kamen, erzählten wir ihm stolz, daß wir Mutter zwei Zähne ausgebrochen hatten. Sein Kommentar, "Tolle Leistung!", war wohl eher negativ gemeint. Immer wenn Vater gebraucht wurde, war er nicht da. Da es meinen Eltern wirtschaftlich nie sonderlich gut ging, war es nicht ganz einfach, für meinen älteren Bruder, Gyaltsen, eine Frau zu finden. Andere in seinem Alter hatten bereits drei oder vier Kinder, und er war immer noch ledig. So hatten meine Eltern schon überlegt, ihn als Mönch ins Kloster zu schicken. Es war ohnehin üblich, daß aus jeder Familie wenigstens ein Kind ins Kloster kam. Aber in Wirklichkeit brauchten meine Eltern natürlich die Arbeitskraft von Gyaltsen, und das Gerede mit dem Kloster war lediglich ein Vorwand, um das Geschwätz der Leute zu beenden. Jedenfalls wurde Gyaltsen für einige Zeit zu einer Nonne geschickt, bei der er ein wenig das Alphabet lernte. Als er nach einem Monat aber noch immer nicht fließend lesen und schreiben konnte, war das meinen Eltern doch wieder zu lang, und der Unterricht für Gyaltsen war beendet. Irgendwann hatte jemand aus dem Dorf im Monsun für ein paar Monate einen Lehrer, einen Chetri, mitgebracht. Gegen Bezahlung konnten auch andere Kinder des Dorfes an dem Unterricht teilnehmen. Da wir kein Geld hatten, war der Lehrer auch mit Butter einverstanden. Doch die hatten wir auch nicht. So tauschten wir bei einem Onkel Heu gegen Butter mit Heu war der Lehrer nämlich nicht zufrieden und dann Butter gegen das Alphabetlernen ein. Jedenfalls konnte Gyaltsen wieder ein paar Wochen zur Schule gehen. Insgesamt nahmen sieben Schüler am Unterricht teil, darunter nur ein Mädchen, das einzige Kind einer Familie. Manche der Schüler waren schon erwachsene Menschen. So nahm auch der jüngste Bruder meines Vaters, Tundu, teil, der schon lange verheiratet war. Statt sich um seine Ziegen zu kümmern, ging er zur Schule, mit der Folge, daß die Ziegen fast verhungert waren, als seine Frau nach etwa einem Monat aus Taljangma zurückkehrte, wo sie ihren Eltern bei der Weizenernte geholfen hatte. Viel mehr als das Alphabet ist bei dem Unterricht damals aber nicht hängengeblieben. Die Schüler berichteten, daß sie zählen mußten, und wer nicht richtig zählen konnte, mußte die Zunge herausstrecken und erhielt ein paar Schläge mit einer Bambusrute darauf. Daher waren wir anderen gar nicht so erpicht, am Unterricht teilzunehmen. Irgendwann war Gyaltsen einmal in Ringmo, wo eine Gruppe von Leuten politische Parolen zugunsten des damaligen Parlamentsabgeordneten Ang Dandi Lama sangen. Gyaltsen war so fasziniert, daß er für ein paar Wochen bei diesen Leuten blieb und für sie arbeitete. Dann schickten meine Eltern mich, ihn nach Hause zu holen. Die Frau seines Arbeitgebers war äußerst freundlich und höflich und sprach in einem ganz anderen Ton mit meinem Bruder als er es von meiner Mutter gewohnt war. Ich überbrachte Gyaltsen meine Nachricht und kehrte nach Hause zurück. Ein paar Tage später kam Gyaltsen ebenfalls. Als zwei unserer Onkel einmal im Winter nach Indien gingen, um dort Stoffe zu kaufen, nahmen sie Gyaltsen als Träger mit sich. Als sie nach einigen Monaten zurückkehrten, berichtete mein Bruder, sie seien irgendwo in Indien Ortsnamen wußte er auch nicht an einem Rastplatz angekommen, auf dem viele Tote gelegen hätten, die offensichtlich niedergemetzelt worden waren. In Panik sind die drei weitergeeilt, bis sie zu einem See kamen, wo es nicht mehr weiterging. Ein anderes Mal beobachteten sie einen Mann, der sich hinter einem Felsen versteckte und nicht mehr aus dem Versteck hervorkam. Da die drei eine Gefahr witterten und befürchteten, überfallen zu werden, gingen sie einfach nicht mehr weiter, bis sie sich sicher waren, daß keine Gefahr mehr bestand. Offensichtlich waren solche Handelsreisen nach Indien eine ganz gefährliche Sache. Später arbeitete Gyaltsen ein Jahr lang als Knecht bei einem wohlhabenden Mann im Dorf. Mein Bruder berichtete, daß dieser Mann innerlich immer sehr unruhig war und sich ständig furchtbar viele Gedanken machte, wie er seinen Reichtum mehren könnte. Gyaltsen war aber beliebt wegen seiner Ehrlichkeit. Mehrmals versuchte Gyaltsen in der Folgezeit, von zu Hause weg nach Indien zu gehen. Einmal erzählte er zur Ablenkung, sie gingen ein großes Feuer machen. Ich bin dann dorthin gegangen, um mir das anzusehen, es war aber niemand da. So ging ich nach Hause und erzählte das unserem Vater. Der dachte sich gleich, daß mein Bruder nach Indien gehen wollte und machte sich auf die Suche nach ihm. In der Tat war Gyaltsen mit Rinzi, einem jüngeren Bruder von Vater, der geschieden war und mit einer Tochter wieder bei unseren Großeltern lebte, auf dem Weg nach Indien. Am nächsten Tag hörten sie unterwegs an einem Rai-Haus einen Hund bellen. Irgendwie dachten sie, daß Vater hinter ihnen hersein könnte, und versteckten sich im Gebüsch. Als der Hund aufhörte zu bellen, dachten sie, daß sie sich wohl geirrt haben müßten. Aber das hatten sie nicht. Vater erwischte sie und brachte sie nach Hause zurück. Ein anderes Mal rief ein Mann von einem nahegelegenen Hügel aus, Gyaltsen solle am nächsten Tag kommen. Da dieser nicht hörte, habe ich für ihn geantwortet. Am nächsten Tag ging eine ganze Reihe junger Männer aus dem Dorf weg. Einer von ihnen hatte das organisiert mit dem Ziel, Stoffe aus Indien zu handeln. Ein älter Mann aus dem Dorf forderte die anderen Leute, die zusammensaßen auf, nicht zu den jungen Männern hinüberzublicken, die gerade das Dorf verließen. Lustig und mit Gesang und Mundharmonika zogen die jungen Männer den Berg hinab. Am nächsten Tag vermutete Vater, meine Mutter habe Gyaltsen weggeschickt, obwohl das nicht zutraf. Vater war so zornig, daß er Mutter mit einem Stock geschlagen hat. Dann ist er hinter der Gruppe hergelaufen. Bereits unten in Yapil holte er sie ein. Dort hatten sie von den Rai Schnaps bekommen, machten Musik und tanzten. Bereits hier war es ihnen viel zu warm geworden, und sie hatten ihren Plan aufgegeben, nach Indien zu gehen. Es war nämlich bereits Mai und sehr heiß. Im Dorf arbeitete einmal ein zierliches junges Mädchen als Magd bei anderen Leuten. Vater zeigte durchaus Interesse an diesem Mädchen als mögliche Frau für Gyaltsen, doch Mutter war von vorne herein nicht einverstanden. Sie sagte: "Was sollen wir denn Arme mit Armen verheiraten? Das bringt ja nur noch mehr Elend." Dann hörten die Eltern, daß in Pangngoma ein heiratsfähiges Mädchen wohne, dessen Eltern viele Tiere hätten. Um die Hand dieses Mädchens hätten schon viele Leute angehalten, doch habe das Mädchen immer abgelehnt. Ein Mann aus dem Dorf muß wohl so aufdringlich geworden sein, daß das Mädchen mit einer Sichel nach ihm geschlagen und ihn an der Hand verletzt habe, wie es selbst berichtete. Die Eltern versuchten gar nicht erst, um die Hand dieses Mädchens anzuhalten, da sie davon ausgingen, daß sowieso nichts daraus würde. Später ist Vater mit Gyaltsen und einem anderen Mann nach Horshinga gegangen, um dort um die Hand einer Frau anzuhalten, die viele Jahre älter war als Gyaltsen und bereits eine Tochter hatte. Diese war verheiratet gewesen, doch hatte ihr Mann sie sitzen gelassen und war nach Indien gegangen. Der Vater dieser Frau ließ die drei zwar ins Haus und nahm auch das Bier an, das sie mitgebracht hatten, doch lehnte er eine Heirat seiner Tochter grundsätzlich ab. Später hat diese Frau einen Mönch geheiratet. Da die anderen Mönche sehr böse waren und ihn auspeitschen5 wollten, mußten die beiden davonlaufen und die in solchen Fällen übliche Geldstrafe zahlen.6 Während ich für ein Jahr bei anderen Leuten als Magd arbeitete, ist Gyaltsen dann doch von den Eltern mit Chogpa, einem Mädchen aus Tamsare, verheiratet worden, deren Eltern auch zwei Felder in Shiteling hatten. Wenn die Maiskolben allmählich reif wurden, mußte immer eines der Kinder dieser Familie für etwa zwei Monate zu der Hütte kommen, die sie dort bei den Feldern hatten, und die Affen vertreiben. Die Heirat vollzog sich als sogenannte satam (Flüsterhochzeit), d. h ohne großes Aufsehen. Obgleich unsere Mutter sich damals sehr für ihre Heirat mit meinem Vetter Danu eingesetzt hatte, wollte dessen Frau mit aller Gewalt Gyaltsens Heirat verhindern, da sie Chogpa gerne als Frau ihres Bruders gesehen hätte. So erzählte sie sehr schlechte Dinge über uns, wie wir später von Chogpa selbst erfahren haben. Chogpas Schwester Passi aber muß gesagt haben, wir wären ja schließlich keine Unberührbaren. Chogpa schwärmte damals in den höchsten Tönen von Gyaltsen, wie schön und hellhäutig er wäre. Irgendwann haben sich Gyaltsen und Chogpa mit deren Schwester Lhaku und einigen anderen Leuten auf den Weg nach Indien gemacht. Gyaltsen war bereits vorausgegangen, damit die Sache nicht so auffällig war. Unsere Mutter und Chogpas ältere Schwester waren über diese Indienreise informiert, nicht jedoch der Vater von Chogpa und Lhaku. Als er davon erfuhr, machte er sich auf, um seine Töchter zurückzuholen. Als er sie einholte, konnte er Chogpa mit dem Versprechen, sie könne nächstes Jahr gehen, überreden, mit ihm nach Hause zurückzukehren, nicht jedoch Lhaku. Als sie auf dem Rückweg einen Mann trafen, der Chogpas Vater fragte, ob er der arme Mann sei, dem zwei Töchter davongelaufen seien, antwortete er, die schlaue sei weg, die dumme habe er zurückgeholt, worüber sich Chogpa unheimlich geärgert hat. Nach ein oder zwei Jahren kehrte Gyaltsen aus Indien zurück. Wir hatten zwischenzeitlich von anderen Leuten erfahren, daß er in Indien viel Schnaps trinke und Stoffe kaufe, die nicht sonderlich reißfest wären. Gyaltsen kehrte mit einem jungen Mann aus Changmiten zurück. Die beiden waren sich zu fein gewesen, ihre Sachen selbst zu tragen und hatten daher als Träger einen Mann aus Okhaldhunga engagiert. Als die drei übernachteten, verschwand der Träger spurlos mit den ganzen Sachen. Mein Bruder sagte, er sei um Mitternacht noch wach geworden, und da habe der Träger noch geschlafen. Die beiden machten sich auf die Suche nach ihm in seinem Heimatdorf. Sie fanden schließlich auch sein Haus, doch war der Mann bereits wieder verschwunden, nachdem er einen Bock geschlachtet und drei Tage lang gefeiert hatte. So kehrte Gyaltsen mit leeren Händen aus Indien zurück. Das einzige, was er außer einer Armbanduhr noch bei sich hatte, waren ein paar Knallkörper. Wir waren gerade auf einem Totenfest im Dorf, als wir ständig Knallgeräusche hörten und Qualm vor unserem Haus aufsteigen sahen. Jetzt wußten alle, daß mein Bruder zurückgekehrt war. Zu dieser Zeit wohnte Chogpa noch immer bei ihren Eltern. Gyaltsen ging von Zeit zu Zeit dorthin, meistens am Abend, und blieb dann bis zu zwei Monate dort, um zu arbeiten. Manchmal kam Chogpa aber auch zu uns arbeiten. Wir fanden es immer sehr schön, wenn die neue Schwiegertochter kam. Das brachte etwas Abwechslung in den Alltagstrott. Danach bin ich dann nach Europa gegangen. Als ich 1972 erstmals wieder nach Hause kam, hatten die Eltern mitten durch ihr Haus eine Mauer gezogen und die eine Haushälfte an Gyaltsen und Chogpa abgetreten. Die beiden waren inzwischen endgültig zusammengezogen und hatten einen Sohn, Tenzing. Später bekamen sie noch einen zweiten Sohn, den sie Nuru nannten. Vater hatte die Grundstücke geteilt. Die junge Familie war jetzt auf sich alleine gestellt und mußte sehen, wie sie zurechtkam. Diese ersten eigenverantwortlichen Jahre einer jungen Familie werden als tongsad (Armenjahre) bezeichnet. Dies ist eine sehr harte Zeit, in der die Eheleute sehr gut zusammenhalten und arbeiten müssen. Geschicklichkeit und Intelligenz sind gefragt. Meine jüngere Schwester hat berichtet, daß Gyaltsen oft zu anderen Leuten arbeiten ging und nicht mehr nach Hause kam. Chogpa mußte dann immer gehen, um ihn zu holen. Als sie dann irgendwann mit einer anderen Frau, die bereits mit ihrem sechsten Kind schwanger war, nach Indien davonlief, hatte jeder Verständnis, daß sie mal etwas anderes sehen wollte als immer nur das Dorf. Doch während die andere Frau nach einem halben Jahr aus Indien zurückkehrte, blieb Chogpa dort. Sie behauptete, Gyaltsen habe sie in ihrer zweiten Schwangerschaft zu sehr vernachlässigt. Sie habe kein gutes Essen wichtig sind insbesondere, Reis, Fleisch, Butter und Schnaps bekommen, und Gyaltsen habe kein großes Feuer zum Wärmen gemacht. Später haben wir erfahren, daß Chogpa zwischenzeitlich mit einem Drugpa (Bhutaner) verheiratet war und zwei weitere Söhne bekommen hatte. So stand mein Bruder mit den beiden kleinen Kindern alleine da. In Akang lebte eine wohlhabende Familie, die großes Interesse daran bekundete, eine ihrer Töchter mit ihm zu verheiraten. Aber er brauchte ja eine Frau, die sofort kam und nicht erst in zehn Jahren, wie es bei einer normalen Sherpa-Heirat üblich war. So ging Gyaltsen nicht dorthin. In Akang hatte aber auch eine Newar-Familie als Pächter gelebt, die dann später nach Salleri gezogen war. Gyaltsen und mein Vetter Sangye gingen nun dorthin und hielten erfolgreich um die Hand ihrer hübschen Tochter Maya an. Diese brachte eine kleine Tochter mit in die Ehe und nahm sich Gyaltsens Kinder an, als wären sie ihre eigenen. Nuru trank noch Muttermilch, als seine Mutter ihn verließ. Vielleicht war das der Grund, daß er anfangs recht schwächlich wirkte. Später haben Gyaltsen und Maya noch eine Tochter und einer weiteren Sohn bekommen, letzteren einen Tag, bevor wir einmal zu Besuch nach Hause kamen. Danach konnten wir meinen Bruder zur Familienplanung überreden. Wir mußten nämlich feststellen, daß er nicht einmal genug zu essen und kein festes Dach über dem Kopf hatte. Er besaß keine Tiere außer einem gefährlichen Hund. Damit Gyaltsen und Maya uns bewirten konnten, hatte Mutter Getreide und Kartoffeln mitgegeben, während andere Leute aus der Nachbarschaft etwas chang spendiert hatten. Als uns dann gekochte Eier vorgesetzt wurden und wir in die hungrigen Kinderaugen schauten, haben wir keinen Bissen herunterbekommen. |
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